Henry
James: The Aspern Papers London: Penguin, 1986. 270 Seiten ![]() ![]() ![]() ![]() |
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Ein US-amerikanischer Publizist, leidenschaftlicher
Verehrer und Mitherausgeber der Schriften des verstorbenen Dichters
Jeffrey Aspern, erfährt von John Cumnor, einem englischen Anbeter des
göttlichen Aspern (S. 47), dass in Venedig eine frühere Gefährtin ihres
Idols lebt. Mehr: sie soll im Besitz wertvoller Papiere dieses Dichters
sein. In The Aspern Papers (1888; dt. Asperns Nachlass) erzählt der Publizist als Ich-Erzähler sein Projekt, die Papiere in seinen Besitz zu bringen. |
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Die
Jugendgefährtin Juliana Bordereau wohnt mit ihrer
Nichte Tina (Erstversion der Erzählung: Tita) völlig zurückgezogen in
einem stattlichen, aber heruntergekommenen Palazzo in Venedig. Zunächst will sich der Publizist unter falschen Namen bei der kaum bewegungsfähigen Dame einquartieren. Die Nennung des richtigen Namens hält er für unangebracht. Bei einem früheren, schriftlichen Versuch zur Kontaktaufnahem mit der Dame, wurde sein Kollege Cumnor nach mehreren Anläufen brüsk zurückgewiesen, u.a. mit der Begründung, dass Frau Bordereau keine Papiere Asperns habe. Zudem ist der Publizist als Aspernanhänger bekannt: die Dame könnte zu schnell seine Absicht durchschauen. Wieder lehnt Juliana zuerst mehrfach ab. Ihre Argumente:
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Einmal einquartiert vollzieht sich zwischen den drei
Palazzobewohner ein psychologisches Katz-und-Maus-Spiel. Monatelang
sieht der Publizist keine der beiden Damen. Er fühlt sich aber von
ihnen beobachtet und zwischen ihren Strängen (S. 74). Er macht sich
Gedanken, von was und wie die beiden leben. Er mutmasst gar, dass sie
abgeschieden mystische Riten pflegen (S. 75). Als er die
Mittfünfzigerin Tina eines Tages sprechen kann, entspinnt sich ein
gewisses gegenseitiges Verstehen und eine Vertrautheit. Tina war zeitlebens für ihre Tante verfügbar: sie geriet weltfremd. Ganz behutsam lenkt der Publizist ihr Gespräche auf Aspern und die Papiere.
Geschickt oder naiv gibt Tina dem Aspernfan stückweise Futter. Auf die direkte Frage ob Juliana Papiere habe, antwortet sie: „Oh she has everything!” (S. 97), was wiederum viele Fragen offen läßt. Im Gespräch deutet Tina bedeutsame Geschehnisse vor ihrer Geburt an (S. 99). Dem Publizisten und den Lesern schwant, dass Tina eventuell der Beziehung Juliana – Jeffrey entsprungen sei. Sie gesteht, dass sie von Juliana gezwungen wurde, eine frühere Nachfrage zu Jeffrey Aspern abschlägig zu beantworten und gar zu leugnen, dass es die Papiere gäbe (S. 101). Tina scheint die Bemühungen ihres Mieters auf sich selbst zu beziehen. Er zieht sie schließlich ins Vertrauen und sie sagt zu ihm zu helfen an die Papiere zu gelangen (S. 100). |
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Mit der Zeit wird der Publizist ungeduldig und da Juliana immer schwächer und bewegungsunfähiger wird, dringt er eines Abends in deren Gemach ein. Er ist sich der Ungeheuerlichkeit seines Eindringens bewusst, schreibt sich aber mildernde Umstände zu (S. 123). Einmal eingedrungen und kurz vorm Diebstahl redet er sich noch ein, diesen nicht zu beabsichtigen. | ||
„I had no definite purpose, no bad intention, but felt myself held to the spot by an acute, though absurd, sense of opportunity. Opportunity for what I couldn't have said, inasmuch as it wasn't in my mind that I might proceed to thievery” (S. 123). | ||
Ein Kenner Edgar Allan Poes Theorie (die er in „The Purloined Letter” formulierte) hätte die Papiere direkt vor seiner Nase auf dem Schreibtisch gesucht, doch der Publizist hält es mit 10:1 für wahrscheinlich, dass sie zerstört sind und will sie doch in Julianas Schreibtisch suchen. Gerade als er überlegt, wie er ihn öffnet, steht plötzlich Juliana im Nachthemd hinter ihm. Ihre Augen starren auf ihn. Sie zischt ihn an: „Ah you publishing scoundrel!” (S. 125). Überstürzt verläßt der Publizist die Szene. Juliana fällt zurück in Tinas Arme. | ||
Nun agiert der Publizist nach dem Bonmot: „Morgen mach'
ich blau, dann komme ich ein Jahr lang nicht in die Arbeit, bis Gras
über die Sache gewachsen ist!” Am nächsten Morgen verläßt er Venedig.
Als er nach zwölf Tagen zurückkommt, erfährt er, dass Juliana
verstorben ist. Tina bietet ihm die Papiere an unter der Bedingung, dass er kein Fremder zu ihr mehr ist, sondern ein Verwandter (S. 135). Wieder verläßt er panisch das Haus. Als er am nächsten Tag ihren Vorschlag erwägt und sie besucht, teilt Tina ihm mit, dass sie die Papiere verbrannt habe. Im späteren Nachdenken darüber kann er den Verlust kaum ertragen – den der Papiere (S. 142). |
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Letzter Satz | ||
Von The
Aspern Papers erschienen zwei Fassungen. Der letzte Satz
in der Erstausgabe im Atlantic
Monthly lautete: „When I looked at it my chagrin at the loss of the letters becomes almost intolerable”. Die korrigierte sogenannte New York Edition (u.a. wurde Tita zu Tina; erschienen von 1907-09) drückt das pointierter aus: „When I look at it I can scarcely bear my loss—I mean of the precious papers” (S. 142). Dem Publizisten ging es also nicht um Tina sondern allein darum seine Gier nach den Papieren zu befriedigen. |
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Psychologisches Meisterwerk mit Tiefgang | ||
Henry James gelingt es meisterhaft, trotz spärlicher Handlung die Spannung zu steigern, bis zum überraschenden Finale. Dabei gelingen ihm eindrucksvolle Charakterstudien und er zieht für die Leser jede Menge Vermutungen und hintergründige Spiele auf. Beispielsweise wird nie geklärt, ob es die ominösen Papiere je oder zum Zeitpunkt des Venedigbesuches gegeben hat. | ||
Während für den Publizisten am Ende der Erzählung ein Lebenstraum jäh beendet wird, scheint Tina, die jahrelang an ihre Tante Juliana gefesselt war, nach deren Tod aufzublühen. Sie will heiraten und sich wieder der Welt öffnen. Dafür muss sie die Vergangenheit hinter sich lassen: sie verbrennt die Papiere. | ||
Der vergangene, verblasste Ruhm des Dichters Aspern
wird parallel geführt mit dem düsteren, dekadenten Venedig, dem
ungepflegten, verfallenen Palazzo und dem Dahinvegetieren der beiden
Bordereaus.
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Alter | ||
Das Altern wird auf mehreren Gebieten thematisiert.
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Wirksamkeit eines Gerüchts | ||
Der Ich-Erzähler weiß von den Papieren nur von seinem
Kollegen Cumnor. Eine Anfrage wurde von den Bordereaus zurückgewiesen,
da sie keine Papiere hätten. Selbst über das Verhältnis
Jeffrey – Juliana gibt nur eine Theorie des Kollegen Cumnors (S. 76).
Auch Tina hat die Papiere – deren Existenz nur sie bestätigt – nie gelesen. Die Berichtslage ist also weniger als kümmerlich. Trotzdem richtet der Publizist sein künftiges Leben danach aus und ist an einer Steölle sogar bereit dafür die ältere (?) Tina zu heiraten. |
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Helden- und Geniekult: Fantum macht blind | ||
Die kultmäßige Verehrung einer Person, Gruppe,
Organisation oder eines Fetischs macht blind. Die Aspernpapiere sind
dem Publizisten wertvoller als die Antwort auf das Rätsel des
Universums (S. 46). Für ihn ist Aspern ein Gott: einen Gott (und seine
Leidenschaft für ihn) braucht man nicht zu verteidigen (S. 46). Dies
ist ein wichtiges Argument um die religiösen Verehrer bei der Stange zu
halten. Auch Juliana hält Aspern für einen Gott (S. 87).
Schon die Anwesenheit der Gefährtin Asperns Juliana läßt das
Herz des Publizisten so schnell schlagen, als habe das
Auferstehungswunder allein zu seinem Nutzen stattgefunden (S. 59). Typische Fanverhalten hoher Ausprägung sind auch diese:
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Paparazzo & Stalker & Schutz der Privatsphäre | ||
Der Ich-Erzähler entpuppt sich als Paparazzo und
Stalker schweren
Kalibers. Die einstige Gefährtin wird ihm zum Ersatzobjekt seiner
Verfolgung. Er geht soweit sich bei ihr einzuquartieren und nahezu
jeden Preis zu zahlen. Doch Juliana entzieht sich ihm rigoros. Da
greift er zu anderen Mitteln:
Nicht nur in die Privatsphäre Julianas wird eingedrungen. Es stellt sich auch die brisante Frage nach der Privatsphäre von Verstorbenen, hier von Jeffrey Aspern. Immer wieder werden Briefwechsel verstorbener Prominenter veröffentlicht. Dabei hat man oft den Eindruck: die Briefe wurden nur so geschrieben, weil ihre spätere Veröffentlichung erhofft oder zumindest erwartet wurde. Es gibt aber sich auch die Fälle, wo es moralisch nicht geboten erscheint in diese private Korrespondenz einzudringen oder sie gar zu eröffentlichen. |
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Kritik an der Kritik | ||
Es wird die Auffassung vertreten, dass für den Ich-Erzähler jedes
Mittel
recht ist, mit der Nichte in engeren Kontakt (Kindlers Literatur Lexikon)
oder gar an die
Papiere zu kommen („Ein Fan geht über Leichen”, ![]() Dem widerspreche ich. Im Gegenteil: er geht über Monate sehr behutsam vor. Zwei Punkte sind dabei bemerkenswert.
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Vorlage für The Aspern Papers und Jeffrey Aspern | ||
In seinem Vorwort zur New York Edition von The Aspern Papers
verweist James auf einen Vorfall in Florenz, der ihn zu dieser langen
Erzählung inspirierte. Damit kommen als Vorlage für Jeffrey Aspern in
Frage:
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Umherrirren in der Stadt | ||
In wenigen Worten beschreibt James an zwei Stellen sein
Umherirren in Venedig:
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Ergänzendes | ||
Henry James hat 1888 nicht nur einen der ersten Romane (lange
Erzählung) über ein dekadentes Venedig abgeliefert, sondern auch einen
über sehr moderne und aktuelle Themen: Helden– und Geniekult,
Paparazzo, Stalker, Schutz der Privatsphäre und Fantum. Weitere
Fanromane sind
The Aspern-Papers ist auch ein früher Repräsentant eines Motivs, das um die Jahrhundertwende besonders modisch wurde: jemand findet ein Bündel Papiere (Fotos, Dokumente, ...) und an deren Erforschung hängt sich das nachfolgende Geschehen auf. Um nur zwei späte Beispiele zu nennen: Dieses Motiv ist inzwischen ziemlich ausgelaugt und bietet kaum noch Überraschungen, sondern bei mir nur Gähnen, wenn es verwendet wird. Henry James ist diese Mode nicht anzukreiden, zumal er mit dem Motiv sehr innovativ umgeht: es geht ja um Papiere, die nie im Roman konkret auftauchen, deren Existenz bis kurz vor Schluss ungewiss bleibt. Kurz vor Schluss deshalb, weil sie – falls es sie je gegeben hat – am Ende verbannt werden.
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Verfilmung / Oper | ||
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The Aspern Papers ist ein hervorragender psychologischer Kurzroman mit einer erstaunlichen Aktualität. Allen mit Gespür für sprachliche Nuancen, Hintergründe statt platter Action oder ein Faible für Venedig wird die Lektüre sehr empfohlen. | ||
Biografie | ||
15.4.1843 New York – 28.2.1916 London-Chelsea (auch sein Landhaus in
Rye, Sussex, wird genannt). Bruder von William James; wird, trotzdem er
lange in Europa wohnte, als amerikanischer Schriftsteller eingeordnet. 1871 erscheint James' erster Roman Watch and Ward im Atlantic Monthly Kontakte zu Ralph Waldo Emerson, William Dean Howells, Bret Harte ab 1869 reiste Henry James in Europa umher 1875/76 Paris – Kontakte zu Gustave Flaubert, Iwan Turgenjew, Émile Zola ab 1911 endgültig in England ansässig Henry James gilt als Meister der psychologisch-realistischen Erzählkunst: die Handlung tritt zugunsten von Dialog und Monolog und psychologischer Beschreibung zurück. |
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Links | ||
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Literatur | ||
Bell, Millicent (1989): "›The Aspern Papers‹: The
Unvisitable Past". The
Henry James Review 10:2. S. 120-127 |
||
Bertonneau,
Thomas F. (2007): "Henry James, "the Death
of God," and
"Theory": The Aspern Papers, The Princess Casamassima, and The Sacred
Fount". Anthropoetics
12:2 – ![]() |
||
Brylowski, A. S. (1969): "In Defense of the First Person Narrator in ›The Aspern Papers‹". Centennial Review 13. S. 215–240 | ||
Jensen-Osinski, Barbara (1981): „The Key to the Palpable Past: A Study of Miss Tina in The Aspern Papers”. The Henry James Review 3:1. S. 4-10 | ||
Korg, Jacob (1962): „What Aspern Papers? A Hypothesis”. College English 23:5. S. 378-381 | ||
Sánchez-Pardo González, Esther (2008): „The Lure of the Object in Henry James’s Fictions of Thwarted Desire: Reflections on the Libidinal and Social Poetics of Literary Forms”. Atlantis. Journal of the Spanish Association of Anglo-American Studies 30:2, S. 27-41. | ||
Scharnhorst, Gary (1990): „James, "The Aspern Papers,"
and the Ethics of
Literary Biography”. MFS
Modern Fiction Studies 36:2. S. 211-217 |
||
Schneider, Daniel J. (1976): „The Unreliable Narrator: James's „The Aspern Papers” and the Reading of Fiction”. Studies in Short Fiction 13:1 | ||
Stougaard-Nielsen, Jacob (2012): „’No absolute privacy’: Henry James and the Ethics of Reading Authors’ Letters”. Authorship 1:2 |
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Henry
James: The Aspern
Papers and Other Stories. Oxford: Oxford UP,
2009. Herausgeber: Adrian Poole. Taschenbuch, 212 Seiten ![]() |
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Henry
James:
Turn of the Screw & the Aspern Papers.
NTC/Contemporary 1999. Taschenbuch, 300 Seiten ![]() |
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Henry
James:
Die Aspern-Schriften. Triptychon 2003.
Bettina Blumenberg, Übs. Gebunden ![]() |
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Ergänzende Literatur | ||
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Colm
Tóibin: Porträt des
Meisters in mittleren
Jahren. Roman. Ditte Bandini & Giovanni Bandini,
Übs. DTV,
2007. Taschenbuch, 432 Seiten ![]() |
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