Wolfgang
Koeppen: Tauben im Gras München: Goldmann, 2001. btb 72705. Taschenbuch, 220 Seiten – ![]() ![]() |
Der
Roman Tauben
im Gras erschien 1951. Er schildert
einen Tag in München 1948 (KindlersLiteraturlexikon) oder 1949, meint
man. Doch Wikipedia klärt
mich auf: eine Zeitungsschlagzeile, die zitiert wird, lautet: „André
Gide gestern verschieden!“. Also war es 1951. Eine Stelle spricht dafür, dass Tauben im Gras genau am Mittwoch der 20.2.1951 oder zumindest danach spielt. Das Abendecho nennt Dichter nur, wenn sie gestorben waren: "André Gide gestern verschieden" (S. 95; Kursivsetzung im Original). André Gide starb am 19. Februar 1951. Koeppen fasst seine Intention am Ende zusammen: "Deutschland lebt an der Nahtstelle, an der Bruchstelle, die Zeit ist kostbar, sie ist eine Spanne nur, eine karge Spanne, vertan, eine Sekunde zum Atemholen, Atempause auf einem verdammten Schlachtfeld" (S. 221). |
Der Autor läßt dazu in kurzen Szenen Menschen aus verschiedenen
Gesellschaftsschichten (mir fehlte ein Arbeiter und/oder Angestellter)
einen einzigen Tag verbringen. Anfangs zusammenhanglos, konzentrieren
sich die Handlungssplitter am Ende auf das Bräuhaus und das
Amerikahaus, wo der Autor Edwin eine Lesung gibt. Alle sind irgendwie
aus der Bahn geworfen und versuchen sich wirtschaftlich und seelisch
über Wasser zu halten. Besonders thematisiert der Roman die Wiederholung in der Geschichte. Der afroamerikanische (im Roman ist er Neger, später mußte man Schwarze oder Farbige und jetzt halt Afroamerikaner schreiben) GI Washington Price kam nach Deutschland um das Schild "Für Juden verboten" wegzuballern; zuhause in Baton Rouge, La., erwartet ihn das Schild "Für Schwarze verboten" (S. 61). An einigen Stellen erkennt Koeppen auch schon für 1949 das Wiederaufflackern des Nazismus. Genauer: er war nie erloschen. Das Thema ist auch im Jahre 2003 (auch nicht 2009) nicht erledigt; teilweise wurde es ersetzt durch "Asylanten unerwünscht" oder "Für Ausländer verboten". Die Vision von Carla und Washington einer Zukunft, "in der niemand mehr unerwünscht ist" hat sich noch nicht erfüllt. Wird sie es jemals? In einer kurzen Sequenz des US Kindes Ezra weist Koeppen auf das Bombardement Deutschlands hin. "Er gab es ihnen aus allen Bordwaffen" (S. 71). Andrerseits stellt der Romanerzähler die Tendenz fest, daß die junge deutsche Generation die schweren Fehler ihrer Eltern nicht wiederholen will (S. 191). |
Eine
zentrale Figur des Romans ist Koeppens Leopold
Bloom der Schriftsteller Philipp, mit
Schreibblockade. Die trifft dann später auch den Autor Koeppen selbst.
Auf den Roman Der Tod
in Rom (1954) folgten jahrzehntelang im Wesentlichen nur
noch Essays. Einige Bezüge zu Ernest
Hemingway (Across the
River and
into the Trees [deutsch: Über den Fluss und in die
Wälder] war 1950
gerade erschienen und von der Kritik nicht gut aufgenommen worden)
führen zum dritten Schriftsteller mit Ladehemmung. |
Koeppens Stil besteht aus kurzen Szenen und inneren Monologen. Er erzeugt eine flirrende Unsicherheit. Ich erlebte die Personen äußerlich wenig konturiert wie in einer Halbdämmerung. Dabei werden die Handlungsstränge doch dicht und laufen aufeinander zu. Ein paar allürenhafte Aufzählungsseiten zu Beginn übersprang ich kühn. |
Tauben im Gras ist kein einfacher Roman. Er fordert den Leser, doch wie bei Wolfgang Hildesheimer: Tynset, Uwe Johnson: Mutmassungen über Jakob oder bei James Joyce: Ulysses, erkennt man in den Wortkaskaden rasch die Qualität. Lesenswert. |
Titelgebung und Vorsatzmotiv |
Gertrude Stein: "Pigeons on the grass alas" aus dem Gedicht "From Four Saints in Three Acts" |
Wunderdoktor
Gröning (S. 53; siehe ![]() |
Nach
dem Verbot in NRW als Heiler zog Bruno Gröning nach Rosenheim und hielt
Hof am „Traberhof“. Da ich als Kind um 1950 schwer erkrankte, zogen
entweder meine Eltern einen Besuch von Gröning in Erwägung oder sie
fuhren mit oder ohne mich direkt zum Quacksalber |
Musiktitel |
Koeppen baut als Zeitkolorit zahlreiche Pop- und
Jazztitel ein. Die unmittelbare Nachkriegszeit war auch ein Aufholen
und Einsaugen der US-Musik, die sich seit dem Musikverbot der Nazis
weiterentwickelt hatte. Die Besatzungszeit brachte dann jahrzehntelang
Kontakt in den Clubs und über den AFN. Die Musiktitel bestätigen die Zeit 1951 (siehe oben Andre Gide und Ernest Hemingway), da beispielsweise The Roving Kind erst 1951 auf den Markt kam. Nachfolgend nenne ich nur die erste Fundstelle des Songs, Koeppen wiederholt einige mehrfach. |
"Wenn ich nach Alabama komm'" (S. 18) aus Oh Susanna, von Stephen Foster, 1848 |
Night and Day (S. 26, 27) von Cole Porter, 1932 |
Limehouse Blues (S. 32) von Douglas Furber & Phillip Braham, 1922 |
Bahama Joe (S. 39, S. 53), Interpret: Louis Jordan & His Tympany Five, 1944 |
Candy (S. 58) von Mack David, Joan Whitney & Alex Kramer, 1945 |
"die kummervoll erhabene Melodie Negerhimmel von Ellington" (S. 86); unklar, welcher der vielen Ellington-Titel hier gemeint ist. |
Stormy Weather (S. 124) von Harold Arlen & Ted Koehler, 1933 |
"She was a nice girl" (S. 150) aus The Roving Kind, von Jesse Cavanaugh & Arnold Stanton, 1950 |
Jimmy's Boogie Woogie (S. 158) vom Count Basie Orchestra, Jimmy Rushing, vocal |
"Glühwürmchen" (S. 191, mehrfach), ein original deutsches Lied von Paul Lincke (Glühwürmchen; Text Heinz Bolten-Backers) von 1902. Die bekannteste englische Version (Glow Worm; Text Johnny Mercer) von The Mills Brothers & Hal McIntyre Orchestra, 1952 (!). Koeppen bezog sich hier wohl auf die deutsche Version. |
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Vergleichsliteratur | |
Heinrich Böll: Billard um halb zehn | |
Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür | |
Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz | |
William Faulkner: Als ich im Sterben lag [As I Lay Dying] | |
Günter Grass: Die Blechtrommel | |
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James Joyce: Ulysses | |
Gert Ledig: Faustrecht | |
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Thomas Mann: Doktor Faustus | |
Hans-Erich Nosssack: Der Untergang | |
John Dos Passos: Manhattan Transfer | |
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Links |
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Literatur |
Best, Otto F.: "Tauben im Gras". KindlersLiteraturlexikon, S. 9259 |
Koch, Manfred: "Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras". In: (1993): Romane des 20.Jahrhunderts. Band 2. Interpretationen. Stuttgart: Reclam. S. 34-58. |
Ward, Simon (1999): "Wolfgang Koeppen and the Bridge of Memory". German Life and Letters 52:1, S. 97-111. |
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Wolfgang
Koeppen: Tauben
im Gras. Frankfurt: Suhrkamp, 2004. Taschenbuch:
236 Seiten ![]() |
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